Die Ursprünge der Physiognomie

Leute nach ihren Gesichtsmerkmalen einschätzen können: Für viele eine faszinierende Fähigkeit, für andere fatale Selbstüberschätzung oder gar Erinnerung an rassistisches Gedankengut. Ein kleiner Überblick.

Quelle: MIGROS-MAGAZIN  6. Juni 2011

Für Biologen ist klar, wie wichtig schon für Babys das Wiedererkennen von Menschen, zuerst natürlich der Eltern, am Gesicht ist. Umstrittener wird es erst, wenn es bei der Physiognomie darum geht, aufgrund von gewissen Gesichtszügen direkt auf Eigenschaften der Person zu schliessen. Den meisten kommt zu diesem Thema vielleicht der bekannte Autor Johann Kaspar Lavater in den Sinn, kritischere Geister denken auch an den Missbrauch – böse Stimmen würden sagen: Gebrauch der Physiognomie bei den Nazis vor und im 2. Weltkrieg: Sie operierten mit starren Zuordnungen von physischen Merkmalen zu Rassen, unterschieden so etwa Juden von den «Ariern», und verbanden ihre rassentypischen Merkmale mit Eugenik-Programmen zur Sicherung des arischen Genmaterials.

Allerdings geht nur ein Teil der Anwendungen von Physiognomie so weit, Menschen aufgrund auftretender Merkmale gleich Typen zuzuordnen. Dafür glaubt eine Mehrheit der Leute, über die Interpretation von Gesichtszügen etwas über die Seele eines Menschen erfahren zu können. In dem Sinn beschränken sich Physiognom(inn)en heute meistens darauf, Anzeichen von Individualität und Erlebtem auf dem Gesicht abzulesen. Nicht etwa im Sinn der Mimik als «Sprachsystem», darum kümmern sich eher Teile der Psychologie oder der Kommunikationswissenschaft (unter dem Stichwort des Nonverbalen). Es geht mehr um die unveränderbaren Gesichtsformen.
Ursprünglich versteht man unter «Physiognomie» übrigens schlicht nur die Analyse der äusseren Erscheinung von Lebewesen. Meistens allerdings jene von Menschen, und üblicherweise konzentriert auf das Gesicht.

Lavater und Lichtenberg
Studien zur Gesichtsanalyse gibt es seit der Antike. Schon bei Hippokrates und Nachfolgern versuchte man aus medizinischer Sicht mit System und Methode aus körperlichen Erscheinungen auf Krankheiten oder Eigenheiten zu schliessen. Andere antike Quellen finden sich bei Aristoteles, Galenus (Begründer der Viertemperamentenlehre mit Choleriker, Sanguiniker etc.), auch bei Plinius oder Seneca. Allerdings gehörte u.a. auch die Mimik zur damals begründeten Physiognomik, weshalb diese Ansätze für moderne Physiognomen kaum mehr hilfreich sind. Vollends auf Mimik ausgerichtet waren die Ansätze von Gesichts-Interpretation in der Benimmlehre von Erasmus von Rotterdam (1524, anhand von Schülern) oder in den 24 auf einen Begriff gebrachten Gesichtsausdrücken des Franzosen Charles Le Brun (Hofmaler bei Louis XIV).

Als bedeutend für die heutige Physiognomie erwiesen sich eher die Schriften von Lavater, Lichtenberg oder Darwin aus dem 18. Jahrhundert. Dabei stellte der Schweizer Lavater in seinen Physiognomischen Fragmenten (1775-78) noch einige Menschentypen vor, in die er anhand von Äusserlichkeiten einteilte. Dies gehörte zu seinem nicht lückenlos verfolgten Traumziel, eine Universalsprache der Natur zu finden und zu beschreiben.
Georg Christoph Lichtenberg machte sich in etlichen offenen Polemiken und Satiren wenig später über die methodischen Unzulänglichkeiten und die Einteilungswut Lavaters lustig. Er pervertierte mit etlichen Beispielen den Glauben vom Rückschluss anhand von Hakennasen & Co. auf das Persönlichkeitsprofil …

Galton und Darwin
Speziell bedeutend neben der aus Medizin oder Biologie operierenden Perspektive wurde im 19. Jahrhundert die Analyse von Gesichtern in der Kriminalistik. Der englische Naturwissenschaftler Francis Galton versuchte durch fotografische Mehrfachbelichtungen fast wie in einer Überblendetechnik beim Film Gemeinsamkeiten von Verbrechern zu finden und zu beschreiben. Aus seinen Ansätzen, zusammen mit der Schädelkunde (Phrenologie) des deutschen Arztes Franz Josef Gall, verfeinert vom Italiener Cesare Lombroso, bastelten sich die Nazis übrigens Teile ihres Eugenik-Programms. Der berühmte Charles Darwin führte die Arbeit von Francis Galton weiter und beschrieb in «The Expression of Emotion in Animals and Men» (1872) möglichst ebenmässige, «gemittelte» Gesichtsformen, die klar weniger zu kriminellem Verhalten neigen sollten. Auch dies aus heutiger Sicht ein umstrittenes oder unwissenschaftliches Vorgehen.